Christian Rickert: Zu den Zeichnungen bis ’68
Die Wirkungsweisen des Lichts sind verschieden. Licht im Gleichmaß ist das Medium, das die Erscheinungsformen der Dinge, die wir wahrnehmenm, klar hervorhebt, um unserem Auge deren Identität glaubhaft zu machen. Licht kann sich aber auch widersprechen, wenn es sein Gleichmaß verliert. Dann drängt es sich derart zwischen die Dinge und deren Erscheinung, dass das Auge an der Indentität unversehens zweifeln muss. Licht, das sich selbst widerspricht, ist Zwielicht. Proteus hat von ihm Besitz ergriffen und leiht ihm seinen Körper. Zwielicht kann deshalb leiblich erscheinen und der Leib des Zwielichts formt für den Bruchteil eines Augenblocks eine vluminöse Lichfigur, die sich wie ein Gespenst über die Dinge stülpt und deren Existenz zerstört, indem sie die Identität der Erscheinung frisst. Die außerhalb der selbstständig gewordenen Lichtfigur verbliebenen Fragmente verschiedener Dinge suchen sich zu retten, indem sie sich zusammenballen und zum Zwielich als dunkle Gegenfigur korrespondieren, deren fremdartige Konturen ein Wesen von eigenem Leben im Raum entfalten – für den Bruchteil eines Augenblicks.
Zwielicht ist der Gegenstand, den Christian Rickerts Zeichnungen festhalten – schwarzweiß.
Im Unterschied zur frühen Dämmerung hat Zwielicht keine Farben.
Wer frühabends hinter einem Fenster sitzt und ins Freie schaut, wird bemerken, dass das gleichmäßige Licht der hereinbrechenden Dämmerung die Farben der Gegenstände, die er draußen sieht, itensiver leuchten lässt, als der volle Tag das kann. Das Grün einer Wiese oder das Rot einer Blüte gewinnt im Widerschein des abnehmenden Tages eine Leuchtkraft, als sei sie von den Farben der Gegenstände aus eigener Quelle nachts in einer verdunkelten Hütte am Meer geschlafen hat und morgens die Fenster aufstößt. Er erblickt unvermittelt die gleißenden Reflexe der Sonne, die von der leicht bewegten Meeresoberfläche zurückgeworfen werden und ist für einen Augenblock halb geblendet. Eine Lichfigur wird swichtbar, die sich zwischen den verwischten Horizonten verkörpert hat. Alle Farben sind vom Licht verschluckt.
Das Bild ist schwarzweiß.
Diese Situation ist der Ausgangspunkt für Christian Rickerts Arbeitsweise.
Rickert kam 1940 in Breslau zur Welt. 1946 ließ sich die Familie in Mülheim an der Ruhr nieder. Sein Vater, selbst Maler und Zeichner, verlangte ihm ein hartes Narturstudium ab. 1960 begann er zunächst mit dem Studium der Germanistik in Köln, ging aber nach einem Semester nach Berlin, um sich an der Hochschule für Bildende Künste als Kunstpädagoge auszubilden. Er wurde Meisterschüler von Professor Fietz. 1965 legte er die Staatsprüfung ab. Heute arbeitet er als Kunstpädagoge an einer Berliner Schule.
Er liebt Musik; das mag zwar mit der pythagoräischen Grundlage musikalischer Gesetzmäßigkeiten zusammenhängen, vor allem aber wohl daran liegen, dass durch das Ineinandergreifen auf- und abschwellender Kadenzen einander überschneidende Empfindungsfiguren entstehen, die in räumlicher Assoziation den Lichtfiguren, die aus Christian Rickerts Arbeitsweise hervorgehen, auf analoge Weise verwandt sind.
Ein Brief Rickerts aus Den Haag beginnt: »Eine holländische Familie schleicht sich an. Erst er, dann sie. Beide nicht mehr die jüngsten; beide haben Bäuche und Schwierigkeiten, alles unter Dach und Fach zu bringen. Kinder gibt es auch. Bei denen geht’s schneller. Die Sonne steht nicht mehr sehr hoch, die Flut kommt herein wie aufgewühltes Silber, die Leute verschwinden so nach und nach, der Horizont wird frei, der Tag wird voll: herrlich hier zu sitzen und das alles anzuschauen. Meer – grau, Brandung weiß wie Reflexe, Himmel – immer noch blau, Sand – sandfarben, Menschen – bunt. Fünf Nonnen schreiten die Brandung ab. Sie runden das Bild – strenges Schwarz-Weiß. Ein Bild wie aus dem Photographic Annual.«
Dieser Text charaktisiert eindrücklich des Künstlers Art, auswählend zu beobachten. Die Landschaft am Meer ist das impulssetzende Motiv, aus dem die Entwicklung des zeichnerischen Stils von Chrisitan Rickert hervorgeht. Am Anfang enstehen Strand- und Brandungsstudien, die das Licht als bewegendes und veränderndes Element zunächst verhalten betonen, allmählich aber immer stärker zur Geltung kommen lassen. Dann erhebt sich über der Brandungszone die Emanation enes dunklen Äthers, dessen dichter Kern von Protuberanzen umgeben ist. Später verlagert sich die Szenerie mehr und mehr in Innenräume, die von diffusen Figuren bevölkert sind. Körperteile – Füße, Hände – erscheinen fest und fassbar, entpuppen sich aber, will das Auge zufassen, als Bettzipfel, die der Träumer in der Hand hält, während ihm beim Erwachen das Plasma des Traumes entschwindet. Die Geschehnisse bleiben verwirrend und in einem geheimnisvollen Zustand der Schwebe. Das Plasma des Zwielichts macht das Feste durchlässig und bewirkt, dass alle Dinge einander durchdringen, ineinander veschmelzen, sich miteinander begatten und ineinander aufgehen können. Zwielicht ist somit als eine Metapher verwendet, die einen sensiblen Zustand der Beobachtung an der Grenze unseres Bewusstseins ins Bild setzt und auf die Außenfläche des Wahrnehmungsbogens im Gefängnis unserer vermeintlichen Erkenntnis flimmernd zurückprojiziert.
1986, Dr. Eberhard Roters